Malen nach Zahlen und Chemotherapie
Ein Beitrag von Elena
Eine gute Freundin erzählte mir vor langer Zeit, dass sie angefangen hat, nach Zahlen zu malen. Ich musste mich anstrengen, um mein Erstaunen über eine so sinnlose Tätigkeit nicht zu verraten. Malen – das konnte ich noch verstehen, aber Ausmalen? Damit ist man doch schon mit sechs Jahren fertig.
Zu dieser Zeit konnte ich noch nicht ahnen, dass das Malen nach Zahlen neben Lesen, Sport, Oper, Museum und Theater mein Hobby werden würde. Schuld daran trägt allein die Chemotherapie!
Die vier Chemos mit nur zwei Wochen Abstand dazwischen tragen die volle Verantwortung für mein neues Hobby. Der Onkologe kommentierte trocken seine Entscheidung über die giftige Chemo-Mischung und die kürzeren Abstände: «Sie sind gut in Schuss, das schaffen Sie schon». Meine sportliche Form habe ich im Blog «Liebe, Halbmarathon und Brustkrebs» beschrieben. Ich war wahrhaftig gut trainiert. Aber es hat nicht für längere Zeit gereicht. Nach der ersten Chemo konnte ich noch zügig 5 Kilometer gehen. Nach der zweiten bin ich in «Papa’s» Tempo spaziert. Er war während dieser Zeit mein Betreuer und damals bereits 82 Jahre alt. Nach der dritten konnte ich sehr würdevoll auf einer Bank an der Sihl sitzen und die Leute beim Gehen und Joggen beobachten. Nach der vierten Chemo blieb ich zu Hause und meistens im Bett.
Was macht ein Mensch, der vorher immer in Bewegung und fast nie zu Hause war, viel unternahm und nun plötzlich kraftlos hier sitzt oder liegt? Ganz zu schweigen von den anderen kleinen «Geschenken», welche die Chemo mit sich bringt und mit denen ich kämpfen musste. Ich sehnte mich auch danach, mein Gehirn abzuschalten, welches mich ständig mit zu vielen Bildern und Gedanken über die mögliche Zukunft versorgte.
Ich suchte Ablenkung. Ich suchte nach einer Beschäftigung. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich schlussendlich auf die Idee kam, Malen nach Zahlen auszuprobieren. Die Auswahl an Malsets war auf Kinder oder romantisch-esoterisch veranlagte Menschen ausgerichtet. Es gab eine grosse Anzahl an niedlichen Kätzchen und Welpen, rosa Pferden und deprimierend kitschigen Sonnenauf- und Untergängen. Aber ich hatte Glück und konnte eine Malvorlage von James Rizzi «My city - my friends» ergattern. James Rizzi ist nicht mein Lieblingsmaler, aber das Rennen gegen rosa Pferde mit lila Sonnenuntergängen war unmöglich zu verlieren.
So habe ich angefangen, einen Karton mit den klitzekleinen Feldern auszumalen, stundenlang. Die feinen Pinsel lagen gut in der Hand. Die Nummern auf den Malvorlagen und die kleinen Plastiktöpfchen mit Acrylfarbe forderten meine volle Konzentration und Präzision. Im Hinter-grund lief Musik. Ich war einfach weg, in einer Welt ohne Krebs, Todesangst, Pillen, Chemo und Zukunftssorgen. Ich habe dieses erste Bild nicht bewusst ausgewählt. Da gab es einfach nichts anderes zu kaufen, was mich in irgendeiner Weise ansprach. Aber es war ein glücklicher Zufall. Das Motiv des Bildes war fröhlich und die Farben bunt. Ein richtiges «Fest der Farben», genauso wie die Ausstellung im Kunsthaus hiess, die mir ans Herz gewachsen war.
Anfangs schämte ich mich, über meine neue Beschäftigung zu sprechen. Es klang zu kindisch, zu anspruchslos. Zu dieser Zeit war ich in Behandlung bei einem Psychoonkologen der Krebsliga. Ich hoffte, dass er mir helfen könnte, wieder Freude am Leben zu finden, unbeschwert und glücklich zu sein, an die Zukunft zu glauben. In einer Sitzung erzählte ich ihm vom Malen nach Zahlen und wie gut mir eine solche Beschäftigung half. Ich war seine erste Patientin, die eine solche Therapie gefunden und erfolgreich an sich selbst getestet hatte. Der Arzt war sehr beeindruckt und bedankte sich dafür, dass ich ihm davon erzählt hatte. Er meinte, dass er es anderen Patienten bestimmt weiterempfehlen würde.
Meine Familie nahm diese «Malen nach Zahlen»-Therapie mal amüsiert, mal wohlwollend, mal interessiert zur Kenntnis. Bald hatte ich mir eine Staffelei gekauft. Dadurch sparte ich viel Geld für die Physiotherapie. Ich konnte mit geradem Rücken im Sitzen und später, als es mir besser ging, im Stehen malen.
Das Malen nach Zahlen reichte für meine künstlerischen Ambitionen aus. Mein damaliger Partner motivierte mich jedoch immer wieder, mit dem «richtigen» Malen zu beginnen. Nach einigem Zögern habe ich es dann doch versucht. Unter der Anleitung eine Kunstmalerin entstand ein Landschaftsbild mit vielen Birken und Blumen. Ein schönes Bild. Aber im Vergleich zum Malen nach Zahlen war es kein entspannender Zeitvertreib. Ständig musste ich Entscheidungen treffen. Welche Farbe soll ich wählen, wie intensiv soll sie sein? Wo soll die Birke hin, welche Farben soll ich für die Blumen verwenden? Und so weiter. Von Entspannung keine Spur, purer Kreativstress. Als alle Birken und Blumen gemalt waren und die Sonne sie in das richtige Licht gesetzt hatte, kehrte ich mit Freude zu den vorgegebenen Farben und Feldern zurück.
Es lebe das Malen nach Zahlen, das mich immer noch beruhigt, auf andere Gedanken bringt und mir einfach Freude bereitet!!!
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